Kommt raus, ihr Kackvögel!

Von Tobias Meyer

Bremen. Carnage sabbert, dicke Fäden laufen ihm über das Kinn, er prustet und spuckt. Seit einer guten Viertelstunde kämpft er nun schon gegen Dragan Spazic, der mit Pelz um die Schultern in den Ring im Pier 2 gestiegen ist und Carnage jetzt im Schwitzkasten hat, ihn am Kopf packt. „Dragan, nicht an den Haaren ziehen“, ruft der Ringrichter. „Erste Verwarnung!“ Carnage wirft sich in die Seile, wird gegen Dragan katapultiert, 102 Kilo Körpermasse klatschen gegen 99, Dragan fällt zu Boden. Auf die Nase! Blut läuft ihm über die Lippen, Blut klebt an Carnages Körper, Dragan wimmert, flucht.

„Pussy!“, schreit eine Frau aus der ersten Reihe und zeigt auf Dragan. „Du scheiß Pussyyyy!“ Sie ist richtig aufgebracht, diese kleine blonde Frau, wirbelt mit den Armen umher. Mag es auch nicht, dass Carnage so viel spuckt, „das ist ja ekelig!“ brüllt sie, und dann wieder „Pussy!“. Das Publikum stimmt mit ein, etwa 200 Kinder, Erwachsene, sogar Senioren. Sie sind gekommen, um den Wrestlern aus acht Nationen beim Spring Rumble der European Professional Wrestling Liga zuzuschauen (EPW). Es ist der letzte verbliebene große Catch-Cup in Bremen.

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In den 80er Jahren, da war das mal anders. Da kamen bis zu 12000 Menschen in die Stadthalle, vier Wochen lief der Wettbewerb, jeden Tag gab es Kämpfe. „Das war eine tolle Zeit“, sagt einer der Zuschauer im Pier 2. Er ist um die 70 Jahre alt, und das erste Mal seit 15 Jahren wieder beim Wrestling – mit seiner Frau und einer Freundin aus Ottersberg. Sie wollen ihre Namen nicht nennen, aber sie haben Spaß. „Natürlich“, sagt die eine Frau, „all diese durchtrainierten Männer, das ist auch was für´s Auge.“

Ist das Sport? Ist das Unterhaltung? Da sind sich die Zuschauer selber nicht einig. Sie sehen Adam Polak, 1,87 Meter groß, 110 Kilo schwer, in Tarnmuster-Bodysuite und hochgeschnürten weißen Schuhen. Sie sehen Youg Money Chong mit einer dicken Goldkette in der Hand. „Die Jury überprüft nun die Catcher auf illegale Gegenstände“, hallt es aus den Boxen im Pier 2. Youg Money Chong muss seine Kette abgeben. Und sie sehen diese enorme körperliche Anstrengung, die bebenden Brustkörbe, die aufgeschürften Knie, die verkratzten Rücken.

Zwischen den Kämpfen: Techno-Musik, Hip-Hop, Rock – alles, was ballert. Immer kommen die Catcher mit stolzgeschwellter Brust in die Halle, lassen ihre Muskeln spielen, einer spuckt eine Fontäne und lässt sie sich aufs Gesicht klatschen. Und immer verlassen sie die Halle humpelnd, gekrümmt, stöhnend. Der eine als Gewinner, der andere als Verlierer. Carnage geht als Gewinner. Er hat seinen Titel als EPW-Junior-Champion verteidigt.

Carnage, der eigentlich Dominic Boers heißt, ist seit zehn Jahren aktiver Catcher. „Ich war als Kind schon Fan“, sagt der Personaltrainer aus dem Ruhrpott. Noch immer scheint das Adrenalin ihn zu kontrollieren, er zuckt unkontrolliert mit Augen und Armen. Ob er Schmerzen hat? „Das merke ich erst morgen“, sagt er. Einmal habe er sich den Kiefer gebrochen und es erst zwei Tage später wahrgenommen. „Das Adrenalin betäubt.“ 30 Kämpfe macht der 31-Jährige im Jahr. 50 bis 1000 Euro gibt es pro Auftritt. Wie viel er für die 25 Minuten heute bekommt, will er nicht sagen.

Dann, vier Stunden nach Einlass, soll der Weltmeisterkampf stattfinden: Titelverteidiger Eddy Steinblock, World-Heavyweight-Champion und einziger Europäer, der fünf Titel gleichzeitig hält, wird vom ehemaligen WWE-Champion Colt Cabana herausgefordert. Der ist aus Chicago angereist, es ist sein erster Kampf in Europa. „Der hat gerade alles in Asien plattgemacht“, sagt Eddy vorher. „Hier geht es heute um einiges.“

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Colt Cabana läuft zu seinem eigenen Song ein, pöbelt die buhenden Zuschauer an, streckt dem Schiri den Mittelfinger ins Gesicht. Eddy, „The Big German“, das Wrestling-Urgestein, das seit 33 Jahren im Ring steht, erscheint zu „We will rock you“ im Nebel. Zu der Nationalhymne zuckt er mit den Brustmuskeln im Takt, den Körper hat er zuvor mit fünf Kilo Fisch (bis 15 Uhr) und ordentlich Eiweiß (nach 15 Uhr) aufgepumpt.

Anruf aus Amerika. „Der Kampf wird nach Streetfight-Regeln stattfinden“, verkündet Moderator Frank Fehrmann aus Dresden. Also: Alles ist erlaubt. Die Glocke läutet. „Eddy, reiß ihm den Schädel ab“, ruft einer von links, Typ BWL, kariertes Hemd, randlose Brille. Eddy streckt Cabana die Zunge raus, der reagiert mit englischen Beleidigungen. „Halt die Fresse, du Arschloch“, poltert Eddy. Das Publikum grölt. Dann, plötzlich, rollt sich Cabana aus dem Ring, wirft mit zwei Stühlen nach Eddy. Der Kampf findet jetzt im Saal statt, Cabana schmeißt Eddy, diesen 148-Kilo-Riesen,  auf den Tresen, an dem der Barmann Sekunden vorher ein leeres Bierfass platziert hat, und donnert es ihm auf den Brustkorb.

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Raus in den Garderobenraum, die Menge folgt ihnen. An die Wand drücken, auf Tische schmeißen, Schreie, Stöhnen, Fluchen. Eddy schmettert Cabana in die Stuhlreihe, die sich scheppernd in zwei Hälften teilt, bis zu dem Platz, an dem die Senioren sitzen. Finale im Ring, Eddy wird mit Handtuch gewürgt, es sieht schlecht aus für ihn. Doch er kann das Ruder drehen, den Herausforderer auf den Boden drücken. Eine, zwei, drei Sekunden – und „The Big German“ gewinnt. Eddy reißt die Hände in die Höhe, zwei Schiris schleifen Cabana zurück in die Umkleide.

Weltmeisterzeremonie, „We are the Champions“, posieren für die Fotos. „Kommt raus, ihr Kackvögel“, brüllt Steinblock. „Oder habt ihr Muffe?“ Die Catcher kommen zum Gratulieren, und dann ist die Show vorbei. Moderator Fehrmann greift zum Mikrofon. „Heute Abend konnte es nur einen Gewinner geben“, ruft er. „Eddy Steinblock.“ Es stimmt in jeder Hinsicht.

 

Erschienen am 15. Juni 2015 im Weser-Kurier, Sport, S.22  

Fotos: Joshua Hartmann

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