Die Dildo-Designerin

Von Tobias Meyer

Dildos. Überall Dildos. Phallische Formen, lang und dünn, kurz und dick, mit Blütenverzierung oder Gesicht: In der Fun Factory im Woltmershauser Hafen ist das männliche Geschlechtsteil präsent wie an kaum einem anderen Ort. Im Treppenhaus, am Empfang, in den Regalen, auf den Schreibtischen – überall ragen penisartige Geschöpfe in die Höhe, unübersehbar in den buntesten Farben. In der Mitte des Großraumbüros steht ein Kasten mit Decke, der an ein Bett erinnert. Hinten links, an einem großen Schreibtisch neben der Wand mit zahlreichen gerahmten Design-Auszeichnungen, hat Verena Michel ihren Arbeitsplatz.

Ein großer Faber-Castell-Buntstiftkasten steht auf dem Tisch, der Blick durch das bodentiefe Fenster fällt direkt auf den Hafen, in dem das Wasser der Weser fließt. Manchmal, wenn sie überlegt, lässt die 30-Jährige ihren Augen zum gegenüberliegenden Ufer schweifen. Meistens jedoch sitzt Verena Michel mit geneigtem Kopf über einem Blatt Papier und zeichnet. So wie jetzt, an einem Montagmittag, an dem es draußen ungemütlich kalt ist, der Regen an das Bürofenster peitscht und die Boote drei Stockwerke tiefer im Hafenwasser hin- und her schaukeln. Im Büro mischt sich das Stimmengewirr der Kollegen mit dem Klingeln von Telefonen und dem Klappern von Tastaturen. Doch Verena Michel lässt sich davon nicht stören: Konzentriert blickt sie auf das Papier, das vor ihr auf dem Tisch liegt.

Ihre Entwürfe werden zu Produkten, die tief in die Intimsphäre vieler Frauen und Männer eindringen

Mit der Bleistiftspitze fährt sie über die weiße Fläche, schnell, mit viel Schwung, zeichnet sie wellenförmige Linien. Sie blickt zu den Ausdrucken, die vor ihr liegen – Bilder der Blume Calla, vier Stück aus unterschiedlichen Perspektiven, heruntergeladen aus der Google-Bildersuche. Sie presst die Lippen aufeinander, vergleicht ihre Zeichnung mit den Fotografien, im Sekundentakt wandert ihr Blick zwischen ihnen hin und her. Dann setzt sie den Stift wieder an, wiegt den Kopf von einer Seite zur anderen, zeichnet, streicht
sich zwischendurch eine ihrer lockigen braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Was auf dem Papier noch aussieht wie eine Banane, die in einer Blüte steckt, wird später millionenfach in fast alle Länder der Welt verkauft. Ihre Entwürfe werden zu Produkten, die tief in die Intimsphäre vieler Frauen und Männer eindringen, die unter die Haut gehen, die Spaß machen sollen. Verena Michel ist Dildo-Designerin.

Laut Statistik besitzt jede siebte Frau in Deutschland einen Dildo. Unter 1000 befragten Menschen zwischen 20 und 35 Jahren haben nach einer aktuellen Studie 49 Prozent der männlichen und 59 Prozent der weiblichen Umfrageteilnehmer schon einmal einen Vibrator benutzt, 36 beziehungsweise 28 Prozent griffen bereits zu einem Dildo. Gut möglich, dass sie sich auch mit einem von Verena Michel entworfenen Sexspielzeug zum Höhepunkt verhalfen: Seit fünfeinhalb Jahren arbeitet sie als Dildo-Designerin bei der Fun Factory, nach eigenen Aussagen europaweit führender Anbieter für Sextoys. Wöchentlich werden im Lager am Hohentorshafen bis zu 3000 pulsierende, vibrierende oder rotierende Liebeshelfer produziert, die Nachfrage steigt stetig.

Als Verena Michel klar wird, dass sie ihr Geld mit der Nachbildung von Penissen verdienen will, steckt sie noch mitten im Studium. „Ich wollte einen Job, bei dem man in einem spannenden Umfeld etwas designen kann“, sagt die 30-Jährige rückblickend. Aus „Spaß“ habe sie immer zu ihren Freunden gesagt, sie werde eines Tages Dildo-Designerin. „Doch der Gedanke ließ mich nicht mehr los.“ 2007, direkt nachdem sie ihr Design-Diplom an der Uni in Kassel erworben hat, bewirbt sie sich bei der Fun Factory in Bremen.

Die Ingenieure Dirk Bauer und Michael Pahl haben die Firma 1995 ins Leben gerufen, nachdem sie am heimischen Küchentisch mit etwas Knetgummi den Dildo „Paddy Pinguin“ formten und feststellten, dass es auf dem Markt an ästhetischem Erotikspielzeug mangelt. Mittlerweile beschäftigen sie 85 Mitarbeiter. Verena Michel bewirbt sich mit ihren bisherigen Designarbeiten. Ein Sexspielzeug findet sich nicht darunter, Erfahrungen mit der Gestaltung von Dildos hat sie nicht. Trotzdem wird sie genommen. „Es geht ja vor allem darum, die Designsprache der Firma zu übernehmen und weiterzuentwickeln“, sagt die 30-Jährige.

„Es geht vor allem um die Form.“

In den ersten Monaten zeichnet sie viele Prototypen, verwirft ihre Ideen wieder, schafft neue Formen. „Ich orientiere mich vor allem an der Natur und an der Architektur.“ Blumen oder Gebäude, Muscheln oder sogar Messer sind ihre Inspirationsquellen. Sie begegnen ihr im Alltag, sie merkt sie sich und geht dann im Internet auf Bildersuche. „Meistens haben die Dinge, die mich inspirieren, wenig mit Erotik zu tun“, sagt Verena Michel. „Es geht vor allem um die Form.“ Ihr erster Dildo, der in Massenproduktion geht, ist der „El Love“; ein langer, relativ schmaler Stab ohne auffällige Verzierungen. Ihre einzige Vorgabe: Der Vibrator sollte elegant sein. Vier Monate tüftelt sie – doch bis das Produkt Ende 2008 auf den Markt kommt, muss es viele Hürden nehmen: Von der ersten Idee bis zum Verkauf ist es ein langer Weg.

Verena Michel arbeitet Vollzeit, acht Stunden am Tag. Wenn sie nicht gerade zeichnet, dann klickt sie sich durch die Internetforen. Was spricht die Frauen gerade an? Was vermissen sie bei dem Sexspielzeug, das bei ihnen zuhause in einer Kiste unter dem Bett oder auf dem Nachtschrank steht? Nutzen sie die Toys lieber für den Solo-Sex oder bauen sie Dildos und Vibratoren in das Liebesspiel mit ihrem Partner ein? Die Designerin liest viel und lernt viel über die sexuellen Vorlieben der anonymen Nutzerinnen, die im Netz einiges von sich preisgeben. Sie entwickelt Ideen, spricht diese mit Frauenärzten ab. Dann zeichnet sie die ersten Prototypen auf Papier, überträgt sie in ein 3D-Programm auf dem Computer, druckt sie mit einem 3D-Drucker aus. Sie gießt die Vibratoren in Form, fünf bis zehn Stück, alles in Handarbeit. „Diese Einzelstücke gehen dann in sogenannte Usergroups“, erklärt sie. Dort werden die Sextoys getestet. Wie viele Frauen und Männer aktuell bei der Fun Factory als Tester gelistet sind, kann sie nicht sagen. „Aber wir brauchen definitiv keine neuen Bewerber, die rennen uns jetzt schon den Laden ein.“ Nach den Urteilen der Tester – die nur sie allein zu lesen bekommt – arbeitet sie weiter an der Form, bis diese schließlich in Produktion geht.

Schließlich muss noch ein Name für das Spielzeug gefunden werden. „Die Arbeitstitel zu den Sextoys sind meist völlig unsexy“, gibt Verena Michel lächelnd zu. Die endgültigen Namen wie „Tiger Deluxe Vibe“, „Pearly“ oder „Patch Paul“ kommen dann beim Brainstorming mit den Kollegen im Konferenzraum zustande.

In Russland beispielsweise bevorzugen die Frauen goldene Vibratoren

Dort sitzt Verena Michel jetzt. An der Wand Plakate mit nackten Männer-Oberkörpern, mit denen das neue Spielzeug für Ihn beworben wird, und Frauen in Dessous. Hinter der Designerin, auf einer langen Sideboard, stehen die aktuellen Modelle der Fun Factory. 25, vielleicht 30 an der Zahl. Kaum einer gleicht sich in der Farbe, manche sind pink, andere schwarz. „Wir richten uns mit der Farbgebung nach der Mode“, sagt Verena Michel. Vor allem in Deutschland komme das gut an – auch wenn die pinken Versionen am beliebtesten sind.

Tatsächlich gibt es Unterschiede zwischen den Ländern: In Russland beispielsweise bevorzugen die Frauen goldene Vibratoren. Grün geht dagegen gar nicht in Frankreich. Während in den 90er Jahren Dildos und Vibratoren mit Gesicht der Renner waren, sind es heute eher Sexspielzeuge, die mehr an einen Penis erinnern als an einen Regenwurm oder einen Delfin. „Viele Kunden mögen es nicht mehr, von ihrem Sextoy angeguckt zu werden“, meint Verena Michel. „Aber damals hat es sehr geholfen, das ganze Thema zu enttabuisieren. Die figürlichen Dildos werden aber dennoch gut verkauft. „Meist werden sie aus Spaß an die beste Freundin oder zum Junggesellinnenabschied verschenkt.“ Und noch etwas hat sich verändert: Immer mehr Paare besuchen die Sexshops, um sich gemeinsam nach Liebeshelfern umzusehen. Auch für Verena Michel ist das eine spannende Entwicklung: „Ich sehe mich gerne neuen Herausforderungen gegenüber stehen. Ein Spielzeug zu entwickeln, an dem beide Freude haben, ist etwas besonderes“, so die 30-Jährige, die davon überzeugt ist, dass Sextoys auch Beziehungen retten können.

Auch Anal-Toys seien sehr gefragt bei Paaren.

Wichtig sei, die Größe des Dildos zu beachten. „Meist handelt es sich dabei eher um kürzere Längen. Damit der Mann keine Komplexe bekommt.“ Generell halte man sich bei dem Großteil der Produktlängen aber nahe der Durchschnittsgröße eines europäischen Penisses auf – also 14 bis 16 Zentimeter. Gut nachgefragt seien auch sogenannte Aufliege-Vibratoren, die nicht eingeführt werden. Die Produkte sollen den Sex schließlich nur unterstützen, und „nicht den Partner ersetzen“ – etwa, wenn der Mann zu früh zum Höhepunkt kommt. Durch Bücher wie Shades of Grey sei die Experimentierfreude gestiegen. Das Bild in der Gesellschaft sei aber ambivalent – denn obwohl Sextoys ihrer Meinung nach zum Lifestyle gehören, gibt es auch immer noch viele Hemmungen. „Entweder die Leute sind total offen in der Hinsicht – oder total spießig. Es scheint kein dazwischen zu geben.“ Auch Anal-Toys seien sehr gefragt bei Paaren. Wichtig dabei: Einen Rückhalt schaffen, damit das Spielzeug nicht in den Darm rutscht. „Dafür halten meist Blumen, Blüten und Blätter als Inspiration her.“ Außerdem gebe es beispielsweise Penisringe, an denen sich eine Kugel befindet. Diese soll die Klitoris der Frau bei der Penetration durch den Mann zusätzlich stimulieren.

Verena Michel spricht ohne Hemmungen über ihren Job. Zwischendurch greift sie sich einen Vibrator, fährt mit den Fingerspitzen über die Rillen und Formen und erklärt, was sie aus Designer-Sicht beachtet musste. Berührungsängste hat sie nicht. „Da wäre ich in diesem Job auch falsch“, sagt sie lachend. Das französische Fernsehen hat schon einmal eine Reportage über sie gebracht, deutsche Medien stehen ständig vor der Tür. Wie ihre Arbeit bei den Freunden ankommt? „Die reagieren eigentlich alle ganz locker“, antwortet sie, streift sich durch das lockige Haar und fügt lachend hinzu: „Manche fragen sogar nach Ratschlägen.“ Doch weil sie offen mit dem Thema Sex umgibt, gibt es manchmal auch Probleme mit der Distanz. „Die Leute glauben, sie könnten mich nach den intimsten Details meines Sexlebens ausfragen“, sagt Verena Michel. Dazu gebe sie grundsätzlich keine Auskunft. „Natürlich hat man als Fun-Factory-Mitarbeiterin auch persönlich Erfahrungen mit Sextoys gesammelt.“ Mit welchen genau, gehe aber niemanden etwas an.

Die hatte Tränen in den Augen, so sehr hat sie sich gefreut

Ihr neuestes Schmuckstück heißt übrigens Stronic und ist der erste Pulsator weltweit. Die Dildos vibrieren nicht, sondern sind in ihren Bewegungen dem Pulsieren eines Penisses nachempfunden. „Früher brauchte man halbe Zimmer, um solche Stoßbewegungen mit Dildo-Maschinen erzeugen zu können“, so Verena Michel. Die beiden Firmengründer haben ihr Ingenieurswissen genutzt und viel Technik auf kleinem Raum verbaut. Derzeit avanciert der Stronic zum Verkaufsschlager – und sorgt auch in den Sexshops der Fun Factory für Spaß, für den man sich nicht einmal ausziehen muss: Da die Eigenbewegung des Pulsators so stark ist, werden auf Verkaufspartys gerne mal Dildo-Rennen veranstaltet. Zuletzt bei der Shopping-Night in Berlin. Dabei konnten Frauen auf ein Modell setzen – und wenn dieses als erstes über die Ziellinie wackelte, bekamen sie eines der über 100 Euro teuren Modelle geschenkt. Die Gewinnerin dieses Mal: eine Dame Mitte 60. „Die hatte Tränen in den Augen, so sehr hat sie sich gefreut.“

Und darum geht es schließlich bei der Fun Factory, der „Spaß Fabrik“: Freude. Intimes Glück, dass man teilen oder für sich behalten
kann. Verena Michel gibt diesem Glück eine Form, fräst und gießt es aus, kleidet es in Silikon. Ihr Inspiration kommt aus der Natur, Blumen, Muscheln und Tiere stehen Pate. Und, nicht zu vergessen: das Original, der Penis. Und wie es so oft ist im Design-Geschäft: Oft kopiert und nie erreicht. Aber – im wahrsten Sinne des Wortes – ganz nah dran.

 

 

 

 

 

Fotos: Fun Factory

Erschienen in: BOM13

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