Bier zum Frühstück

Ein Vormittag in der Steintor-Kneipe „Zum Haltepunkt“

Von Tobias Meyer

Um kurz vor 11 – oder, in ihrer Zeitrechnung: nach dem sechsten Bier – fängt Moni an zu tanzen. Auf und ab, aus den Knien heraus, die Arme wie Flügel weit von sich gestreckt, die Augen eng zusammengekniffen. „Heeells Beeells“, grölt sie mit verzerrtem Gesicht. Pauli streckt hinten an der Jukebox den Daumen in die Höhe, bevor er wankenden Schrittes mit bierglasigen Augen am Kicker vorbei zum Tresen zurückkehrt. „Das nenn ich mal ein gelungenes Frühschoppen“, ruft Moni ihm zu. „Immer mit‘m Mors zu Hause hab‘ ich och keen Bock, oder Michaela?“
Michaela Thomae-Bühring lacht. Weil sie sich freut, dass etwas Stimmung aufkommt an diesem Donnerstagvormittag in ihrer Kneipe „Zum Haltepunkt“. Vor allem aber, weil sie froh ist, dass AC/DC-Frontmann Brian Johnson von den Höllenglocken und nicht Ronny von den „Hohen Tannen“ singt. Das Lied kann sie nämlich nicht ausstehen.
Seit 17 Jahren führt Michaela die Raucherkneipe im Steintor. Hausnummer 29, zwischen Waxing-Studio und Handyladen. Auf der Fensterfront kleben gelb-grüne Haltestellenkreise, über dem Eingang steht: „Betreutes Trinken für Jedermann/-frau“. Während die einen an der Haltestelle vor der Haustür auf die Straßenbahn warten, warten die anderen im Haltepunkt auf ihr nächstes Bier. Nur für Moni und Pauli ist gerade, unüberhörbar, „Abfaaahrt!“.
Drei Stunden zuvor ist das noch anders. Michaela hat gerade den Laden geöffnet, da prosten sich Moni und Pauli stumm mit ihrem ersten Bier zu. Moni kommt von ihrer Frühschicht. Ab und zu genehmigt sie sich anschließend ein Feierabendbier oder zwei, und meistens ist Pauli eben auch dabei. Er sitzt breitbeinig auf dem Barhocker, das St.-Pauli-Käppi bis zu den Augenbrauen ins Gesicht gezogen; sie steht daneben, die Arme verschränkt auf dem Tresen aufgestützt. Oft reden sie nicht viel, außer St. Pauli hat ein wichtiges Spiel, und meistens ist das nächste Spiel immer das wichtigste, so hört es sich bei Pauli jedenfalls an. Heute aber will Moni über Politik reden, über „die da oben, die immer fetter und fetter werden“, und über das viele Geld, das Moni drucken würde, damit alle mehr davon hätten. Sie redet sich richtig in Rage, haut mit der Faust auf den Tresen, und Pauli schüttelt nur den Kopf. „Is’ gut jetzt, Moni“, sagt er. „Entspann dich moal.“ Monis wütender Blick wird weich, dann gibt sie Pauli einen Schmatzer auf die Wange, und beide schauen wieder stumm über den Tresen ins Flaschenregal.
Politik und Kirche, darum gehe es am häufigsten, sagt Michaela. „Dabei haben solche Themen wirklich nichts in der Kneipe zu suchen“, findet die 57-Jährige. Sie hat gelernt, sich nicht einzumischen, früher schon, als sie in anderen Lokalen wie der „Schänke“ gearbeitet hat, und jetzt erst recht, wo sie selbst eines führt. „Ich sach immer: Die Gedanken sind frei, aber hier wird die Klappe gehalten.“ Wenn sie Unmenschliches höre, dann könne sie aber nicht anders, dann schmeiße sie auch Leute raus. „Das hat hier keinen Platz, sowas.“
Aber normalerweise ist es ruhig. Ruhiger als heute, denn: Immer weniger Leute verirren sich bereits morgens in ihre Kneipe. Als Hartz IV eingeführt wurde, brach das Geschäft zum ersten Mal ein, da hatte sie das Lokal gerade einmal fünf Jahre in Betrieb. Eigentlich, um ein zweites Standbein aufzubauen für sich und ihren Mann, der Dachdecker ist. Sie selbst hat 22 Jahre in einer Arztpraxis gearbeitet, nun muss sie dafür sorgen, dass ihr eigener Laden läuft zu den Öffnungszeiten, von acht Uhr morgens bis spät in die Nacht, und am Wochenende auch mal rund um die Uhr. Ihre 77-jährige Mutter, ihre Schwester und fünf weitere Stundenkräfte helfen ihr, sie selbst macht sechs Schichten die Woche. Manche Tage verbringt sie mehr Zeit im Haltepunkt als in ihrem Zuhause in Hastedt.
Gerrit kommt rein, Michaela begrüßt ihn herzlich. „Käffchen?“ Gerrit nickt, setzt sich zu der Wirtin und schnappt sich eine Zeitung vom Tresen. Er studiert in Münster, Geschichte und Latein auf Lehramt, aber wenn er in seiner Heimat ist, dann lässt er sich hier häufig blicken. Nicht nur, weil er ein Sparfach hat, in das er alle zwei Wochen fünf Euro stecken muss, weil ansonsten eine Strafgebühr von einem Euro droht. „Die kommt dann in einen Topf, und an Weihnachten gibt es ‚n schönes Spanferkelessen Bühringmit allen zusammen.“ Sondern auch, weil er halt ein Kneipengänger sei, er möge die Atmosphäre, und hier im Haltepunkt ganz besonders. Aber nur, wenn er mal abends komme, dann trinke er Alkohol. „Auch mal ‚n bisschen mehr“, sagt er grinsend. „Oh ja“, stimmt Michaela ihm lachend zu und vergräbt kopfschüttelnd ihr Gesicht in den Händen. Morgens aber gibt es nur Kaffee, betont er, und nimmt einen großen Schluck aus seiner Diddl-Tasse.
Für Michaelas selbst gemachten Pfeffi, der hier Minzi heißt, und ihren Mexikaner interessiert sich um diese Uhrzeit noch keiner – dabei gab es schon Nächte, in denen sie extra aus dem Bett aufstehen musste, um für Nachschub zu sorgen. Beworben werden die Schnäpse mit selbstbeschriebenen Pappschildern, die am Regal hinter dem Tresen kleben, und auf dem wie im gesamten Lokal allerlei Kitschkram steht: hölzerne Jazz-Figuren, verstaubte Modellschiffe und vieles mehr, das Michaelas Mann auf dem Flohmarkt ergattert hat. Ihr Lieblingsstück hing schon, als sie die Kneipe übernahm. Ein altes Bild, von einem Gast gemalt, in einem schweren Rahmen aus drei Holzarten. Der Rauch der Kneipe hat es dunkel gemacht, aber noch immer ist Ratskeller-Motiv zu erkennen. Jemand hat ihr einmal 10 000 Euro dafür geboten, aber Michaela hat abgelehnt.
Jetzt sitzt sie vor dem Bild und sortiert die Post. „Ach nee, meine Schwester wieder“, sagt sie und pult eine Pailletten-Dose aus einem Paket. „Bestimmt für ihre Nägel.“ Im nächsten Brief sind falsche Wimpern, und im übernächsten Tickets für die Band Deichkind, die haben ihre Kinder bestellt. Sie greift zu ihrem Handy, um ihnen eine Whatsapp-Nachricht zu schreiben. Dann tippt sie sich durch die Online-Prospekte der Supermärkte, in denen der Alkohol oft günstiger ist als im Großhandel. Manchmal verbringt Michaela einen ganzen Tag damit, die Geschäfte abzufahren und den Kofferraum mit Flaschen zu beladen. Unter anderem mit Oettinger, das Michaela nach einer Umfrage unter ihren Stammgästen mit ins Programm aufgenommen hat. Manche sagen, im Haltepunkt gibt es das günstigste überdachte Bier.
Über der Oettinger-Kiste kleben Postkarten mit Sprüchen, auf einer steht: „Genuss ohne bücken“. Auf einer anderen, etwas weiter rechts: „Wer ficken will, muss gut aussehen.“ „Naja“, brummt Pauli, „der eine mag Sex, der andere St. Pauli, so ist das eben.“ Gerrit hört da gar nicht so genau hin, er war eben drüben bei der Sparkasse und hat sich Kontoauszüge geholt. „Puh, Oxford war teuer“, sagt er und kratzt sich an seinem Kopf mit den kurzgeschorenen Haaren. Gleich noch der Kaffee für 5,80, außerdem ‚n Zehner ins Sparfach. Ach ja, und: einen Euro in die Jukebox, für fünf Platten. Für zwei Euro gibt es zwölf Songs, aber so viel Zeit hat Gerrit nicht mehr, weil er gleich zum Fußball muss, also wählt er erstmal was von Dead or Alive.
Moni und Pauli singen mit, nach und nach kommen weitere Gäste. Heinzi, der Michaela eine E-Zigarette mitbringt, weil sie nach 43 Jahren qualmen nun seit drei Tagen dampft. Peter, der nur stumm vor seinem Oettinger sitzt und ab und zu mal zu Heinzi rüberschaut, der immer wieder „Die spinnen doch“ grummelt, während er die Zeitung liest. Linsemann, der eigentlich zum Putzen da ist und jetzt Kaffee schlürft, was Michaela irritiert, weil er das nie tut, genauso wenig wie zu rülpsen, aber heute ist es halt so.
Dann lässt sich Berti blicken, noch einer, dessen Name auf i endet, zumindest hier, im Haltepunkt. Berti hat gerade einen Zahn verloren. Vielmehr aber regt ihn sein Stromversorger auf, weil der ihm jetzt mehr Geld abnehmen will, und da hält er es mit Heinzi: „Die spinnen doch!“ „Ach iwo“, sagt Michaela in ihrer gutmütigen Art, „das sind auch nur Menschen wie du und ich.“ Sie stellt ihm ein Hemelinger hin, das er mit dem Zeigefinger entjungfert, bevor er trinkt.
Billy Idol singt „Rebell Yell“ aus der Jukebox, Michaela summt mit. „Das sind doch Pfeifen da mit meinem Strom“, ruft Berti wieder dazwischen. „Ist doch gut jetzt“, meint Michaela, „hat sich doch alles geklärt.“ „Sag doch gleich, dass ich meine Schnauze halten soll“, antwortet Berti beleidigt. „Erzähl mir doch einfach was Schönes“, fordert Michaela. „Okay, dann sage ich dir, dass ich dich liebe“, grinst Berti. „Aber bild dir nichts druff ein, ich liebe alle nedden Fraun.“
Dann verabschiedet er sich schon wieder, auch Moni und Pauli sind längst gegangen. Also zuppelt Michaela ihre Jacke im Leo-Look aus dem Regal und macht sich auf den Weg. Schon heute Abend wird sie wieder hier sein, in ihrem zweiten Wohnzimmer. Vielleicht hat sie Glück und bleibt von Ronny verschont.

 

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